Invasion

X27-11 Alpha: Innerster Planet des Syst. X27-11, Schwerkr. 1,3g. Gebund. Rotation. Kein Magnetfeld. Temp. ~340K am Tagpol und ~210K am Nachtpol. Dichte Atm. (~317kPa), 52% CO2, 37% NOx, 10% N2, geschl. Wolkend. aus Stickox., ultrastab. Klima. Kruste besteht vorw. aus SiO2, geringe Vork. an Fe, Na, Ca und Sn in versch. Zus.-setzungen, nicht abbauwürdig. Primitive chemosynth. Mikroorg.
Klassifikation (nach RFC342219-34a): Kolonialisierung: ungeeignet, Stützpunkt: schlecht geeignet, Bergbau: ungeeignet, Forsch.-bedarf: gering.

(Encyclopedia Galacticae)



Wer hätte ahnen können, daß der orangene Himmel Ungeheuer barg?

Doch von dort waren sie gekommen. Ihre Himmelsmaschine erreichte den Boden in der tödlichen Kaltzone, in die noch kein Thith vorgedrungen war, aber die Kälte schien ihnen nichts auszumachen. Aus dem Bauch ihres Gefährts rollte eine kleinere Maschine, eckig und dunkel glänzend. Sie aber, die Ungeheuer, fast doppelt so groß wie ein erwachsener Thith, saßen obenauf und waren furchtbar anzuschauen mit ihren weißen, gedrungenen Körpern. Und sie fächelten nicht, um sich aufrecht zu halten, wie es jedes höhere Lebewesen tat. Die durchsichtige Blase am oberen Ende schien sie zu stabilisieren, denn sonst wären sie sicher bei ihren plumpen, unbeholfenen Bewegungen aus dem Gleichgewicht gekommen. Die seltsame Bewegungsmaschine hielt auf die Heimatzone zu, und sie war schneller als alles, was sich bisher auf Thoo bewegt hatte.

Hier Gruppe Triton. Landung erfolgt. Automatische Prozeduren laufen. Beginnen Erkundung. Ende.

Noch gab es Thith, die mehr neugierig als besorgt waren. Andere vertrauten auf ihren Mut, ihre Kraft und die neuen Waffen, und das mit Recht: Hatten die Thith untereinander nicht unzählige Kriege geführt, und dabei ihren unbeugsamen Willen und ihr taktisches Geschick bewiesen? War das hier nicht einfach nur eine neue Bewährungsprobe unter den vielen, die ein jeder Thith im Laufe seines Lebens bestehen mußte? Sollte die vereinte Kraft aller Clans nicht ausreichen, den Ungeheuern Einhalt zu gebieten?

Die Bewegungsmaschine erreichte die Heimatzone an einer Stelle, die von den Thith-Thothii beherrscht wurde, einem der mächtigsten Clans. Jeder andere Eindringling wäre geflohen angesichts der furcheinflößenden Kristallburgen, die mit Hitzestrahlern und Gaswerfern gespickt waren. Doch die Ungeheuer drangen weiter vor. Die Thith-Thothii begannen den Kampf.

Hier Triton. Seltsame Gesteinsformationen. Messen einen erhöhten SO2-Anteil. Möglicherweise ein Zeichen von geologischer Aktivität. Ende.

Das Gefährt hielt und eines der Wesen stieg ab. War es geschwächt oder verwirrt? Die Thith-Thothii wollten schon zum letzten, tödlichen Schlag ausholen, da steuerte das Ungeheuer seltsam schwankend auf eine der Burgen zu. Unbeweglich stand es vor der Öffnung eines Gaswerfers und hielt einen kleinen Kasten hoch. Dann holte es ein anderes Gerät und schlug auf die Kristallburg ein. Die gasgeschwängerte Luft drang durch das entstandene Loch ein und tötete augenblicklich die gesamte Mannschaft. Die Thith-Thothii waren geschockt: Wie konnte ein Gegner solch einen Angriff überleben? Wie konnte er die mächtigen kristallenen Mauern zerstören?

Invasion 1
(Illustration von Thomas Hofmann)


Hier Triton. Das SO2 kommt tatsächlich aus dem Gestein. Wir haben eine Probe genommen. Sieht etwa so aus wie Glimmer, ist aber brüchiger. Ende.

Die Thith-Thothii erwarteten ihre völlige Zerstörung. Was sollte die Ungeheuer nun noch aufhalten?
Doch der Angreifer wandte sich um, als wäre nichts geschehen, und kletterte zurück auf die Maschine zu seinem Gefährten. Ihr Vehikel setzte sich wieder in Gang, und obwohl es ein ungeheueres Gewicht besitzen mußte, raste es mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit davon und ließ nur eine riesige Staubwolke zurück. Die Vibrationen des Bodens reichten aus, um einige der Burgen zu beschädigen.

Viele Thith waren geschockt von der Zerstörungskraft, die die Fremden eben entfesselt hatten. Doch der Anblick der dahinstürmenden Maschine versetzte die Waffenmacher der Thith in noch viel größere Furcht: Sie fragten sich, ob die Ungeheuer vielleicht Waffen besäßen, die solche Energien freisetzten, wie der Antrieb ihres Gefährts benötigen mußte. Was bisher geschah, wäre dann nur ein harmloses Vorspiel gewesen. Doch die Waffenmacher schwiegen, denn sie wollten der Furcht unter den Thith keine neue Nahrung geben.

Die Ungeheuer rasten weiter. Ihre Maschine zermalmte achtlos Befestigungsanlagen aus dem Großen Krieg zwischen den Thith-Thothii und dem Clanbund der Thiooth. Sporenverseuchter Sand wirbelte auf, doch das schien sie nicht zu kümmern: Sie behielten ihre Geschwindigkeit bei.
Selbst der Hohe Wall, der bislang die überlebenden Thiooth vor der Rache der Thothii geschützt hatte, erstürmte das Gefährt der Ungeheuer scheinbar mühelos. Die Kasematten, die im obersten Viertel des Walls angelegt worden waren, stürzten zusammen. Die Maschine geriet ins Stocken, fast sah es so aus, als würde sie abrutschen. Doch dann drehten sich ihre unteren Teile schneller und schneller, bis das Gefährt aus dem Staubwirbel, den es selber erzeugt hatte, herausschoß und über den Rand des Walls rollte.
Einige Thith versuchten zu fliehen, doch die Angreifer hatten sie bereits erspäht. Die Maschine hielt abrupt an, und die Ungeheur schienen einen Moment nicht schlüssig zu sein, wie sie ihren Kampf fortsetzen wollten.

Hier Triton. Haben eine multizellulare Lebensformen entdeckt. Sechs Individuen. Sind etwa einen Meter hoch, besitzen einen Rumpf aus einem dünnen Schlauchbündel und an der Spitze eine Art Schirm, der sich quallenartig bewegt, offenbar um die Wesen aufrecht zu halten. Probenentnahme nach Standardprozedur. Ende.

Ein Ungeheuer stieg ab und nahm eine flexible, durchsichtige Blase, dann näherte es sich schnell den entsetzten Thith. Wie konnte so ein massiger Körper bloß eine derartige Geschwindigkeit entwickeln? Und warum stürzte das Wesen trotz seiner absonderlichen, taumelnden Bewegung nicht? Das Ungeheuer stoppte in einiger Entfernung, um die große Blase zu entfalten, dann stürzte es sich auf sein Opfer. Die furchtbare Hitze ließ den Thith buchstäblich schmelzen. Das Ungeheuer beugte sich über die verschmorten Überreste, um sich an seinem Werk zu ergötzen, und kratzte dann etwas davon in ein kleineres Behältnis. Sollte es dies etwa für eine Art Trophäe halten? Widerlich! Die Thith erschauerten beim Anblick dieses abscheulichen Rituals. Dann nahm das Wesen wieder seine Blase auf und griff den nächsten Thith mit seiner Hitzewaffe an. Als auch dieser vernichtet war, ließ das Ungeheuer aus unerfindlichen Gründen von den anderen ab und kehrte zu seinem Gefährt zurück.

Invasion 2
(Illustration von Thomas Hofmann)


Hier Triton. Konnte leider kein unversehrtes Exemplar bergen, nur Zellreste. Möglicherweise sind sie so hitzeempfindlich, daß sie bereits die Abstrahlung meines Kühlsystems getötet hat, bin mir aber nicht sicher. Zumindest scheinen es keine hochentwickelten Lebewesen zu sein, ich würde sie etwa mit irdischen Quallen vergleichen. Fahren jetzt direkt zum Tagpol. Ende.

Die Maschine raste weiter, und die Thith verfolgten voller Furcht den Weg auf ihren Karten. Das Ziel war klar: Thi-Thoo, die größte Stadt und gleichzeitig der bedeutendste Ort der Thith: Es war die wärmste Stelle auf Thoo, und hier trafen sich alle Winde, um in den Himmel aufzusteigen. Eine Kuppel erhob sich neben der anderen, und sie waren größer, glänzender und schöner als in allen anderen Städten.
Die Ungeheuer blieben an der Stadtgrenze stehen.

Hier Triton. Eine seltsame Formation versperrt uns den Weg. Es sieht aus wie erstarrter Schaum. Wir untersuchen das Phänomen. Ende.

Wieder stieg eines der Ungeheuer ab, näherte sich den ersten Kuppeln. Es hatte die Waffe in der Hand, mit der es schon die Kristallburg der Thith-Thothii zerstört hatte. Aber das Wesen setzte sie nicht ein, statt dessen zerbrach es die Kuppel scheinbar mühelos mit einer seiner oberen Extremitäten.

Doch die Thith von Thi-Thoo wollten sich nicht geschlagen geben. Sie brachten ihre Geheimwaffe in Position, die sie bisher noch nie zuvor im Kampf eingesetzt hatten, denn sie war entsetzlicher und grausamer als alle anderen Waffen Thoos zusammengenommen: Auch wenn sie nichts zerstörte und nicht einmal tötete, war keinerlei Gegenwehr möglich, denn sie löschte augenblicklich den Geist eines Gegners aus.
Zitternd gab der Erste Thith den Einsatzbefehl.

Nichts passierte, das Ungeheuer stand still. Dann ergriff es ein Gerät, das an seinem Rumpf befestigt war, pochte darauf, schüttelte es. Die Thith jubelten, als sie den Feind in so offensichtlicher Verwirrung sahen. Endlich hatten sie einen Weg gefunden, die Angreifer zu vernichten!
Doch auf einmal ging das Ungeheuer zurück zur Fahrmaschine und kommunizierte mit seinem Kumpan. Wie konnte das sein? Der Jubel verstummte. Es schien unglaublich, aber offenbar hatte der Beschuß nicht ausgereicht.

Hier Triton. Es ist dasselbe glimmerartige Material, wie wir es schon einmal hatten, nur diesmal sehr dünn. Haben eine Probe genommen. Folgen der vorgesehenen Route, das Zeug stellt kein Hindernis dar. Schade, daß wir keine Zeit haben, es näher zu untersuchen. Ach ja, mein Magnetometer spinnt: Eben hat es 27 Mikrotesla angezeigt, fast soviel wie auf der Erde, und jetzt steht es wieder auf null Komma null. Ende.

Dann geschah das Unfaßbare: Angestachelt durch den Angriff der Thith starteten die Ungeheuer ihre Maschine und steuerten sie in rasender Wut mitten in Thi-Thoo hinein. Die glitzernden Kuppeln zerbarsten, die Erde bebte, Einwohner wurden zermalmt. Das Gefährt schien den Widerstand der Kuppeln nicht einmal zu bemerken, es bewegte sich einfach hindurch, als wären sie Luft. In wenigen Augenblicken zog sich eine breite Schneise der Verwüstung durch die schönste Stadt von Thoo, und Staub bedeckte ihren Glanz. Das Gefährt fuhr noch eine Weile, dann hielt es mitten auf dem Großen Versammlungsplatz.

Hier Triton. Haben den Tagpol erreicht. Beginnen mit der Seismik. Ende.

Doch die Thith, die dachten, es könne nicht mehr schlimmer kommen, hatten sich getäuscht. Die Ungeheuer setzen eine neue Waffe ein: Eine Stange, um die sich eine Spirale wand. Sie setzten das Ding gemeinsam auf den Boden, und es begann zu rotieren. Je weiter es sich in die Tiefe fraß, um so schrecklicher wurden die Erschütterungen. Einige der Kristallburgen bekamen tiefe Risse und zwei kleinere Rettungsbunker nahe der Kampfzone stürzten sogar ein. Schließlich zogen die Ungeheuer die Stange wieder heraus und stopften etwas in das Loch hinein.

Doch diesmal ließen sie nicht so schnell von ihrem Angriff ab wie in der Vergangenheit. Sie benutzen die Waffe wieder und wieder, wobei sie das erste Mal ein systematisches Vorgehen erkennen ließen: Die Angriffspunkte bildeten ein exaktes Gitter. Unter den Thith herrschte inzwischen völlige Panik. Wer gedacht hatte, daß sich die Ungeheuer nach ihrem blindwütigen Zerstörungswerk einfach zurückziehen würden, sah sich getäuscht: Hatten die Ungeheuer nicht immer schrecklichere Waffen eingesetzt, nicht immer effektiver Burgen, Städte und Bunker zerstört? Und hatten sie sich nicht mehrfach aus Kämpfen zurückgezogen, obwohl sie eindeutig überlegen waren?
Nun war es offensichtlich: Ihre vorausgegangenen Angriffe dienten einzig und allein das Ziel, mitten ins Zentrum von Thoo vorzustoßen. Die Ungeheuer hatten einen Plan, und sie waren bei der Ausführung nicht mehr aufzuhalten.

Die Ungeheuer kletterten wieder auf das Gefährt und verließen den Platz. Dann hielten sie in einiger Entfernung. Das eine Ungeheuer drückte auf ein kleines Kästchen. Ein einziger, gewaltiger Stoß erschütterte Thoo. Die Kristallburgen und Bunker fielen in sich zusammen. Die Stadtkuppeln barsten. Staubwolken verdunkelten den Himmel. Kampfgase und Sporen traten aus und vergifteten die Atmosphäre. Wie zum Hohn mußten die Sterbenden mit ansehen, wie die Ungeheuer völlig unbeeindruckt vom Inferno, das sie ausgelöst hatten, zum Zentrum der Explosion zurückfuhren, nur um dort ihre teuflischen Waffen einzusammeln.

Die Ungeheuer hatten ihr Ziel erreicht: Die Zivilisation der Thith existierte nicht mehr.

Hier Triton. Sind mit den Messungen fertig. Machen uns auf den Rückweg. Ende.

Einem uralten Ritual folgend legten die Ungeheuer gut sichtbar eine dicke Titanit-Platte mit eingravierten Symbolen auf einen Felsblock. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß irgendwann eine außerirdische Intelligenz ihren Fuß auf diesen öden Wüstenplaneten setzen würde. Doch das war pures Wunschdenken, wie sie wohl selber zugegeben hätten.

Die Ungeheuer wendeten ihr Gefährt und traten den Heimweg an. Bald darauf heulte die Himmelsmaschine auf und zischte eilig den orangenen Wolken entgegen, als wäre sie froh, diese tote Welt endlich verlassen zu können.