Sonic

Mittwoch

Ich sitze auf meiner Parkbank und lese. Manchmal bin ich so in ein Buch vertieft, daß ich gar nicht mehr auf die Sonics achte, die hektisch vorbeistelzen. In diesen Momenten vergesse ich auch die Einsamkeit.

Denn ich bin ein Außenseiter, hilflos und unnütz in einer Zeit, die einfach zu schnell für mich ist. Der Treibstoff dieser schönen neuen Welt heißt Hydrochlor-1,4-Velobasin-Diacetat, kurz "Sonic". Als man herausfand, daß gewisse Velobasin-Derivate eine schnellere Reizverarbeitung ermöglichen, begannen sich einige Sportler damit zu dopen. Dann folgten Börsenmakler. Danach Manager, Politiker, Ärzte. Dann alle, die ihren Job behalten wollten... Schneller denken heißt mehr leben, predigten die Pharmakonzerne, und entwickelten immer besser verträgliche Varianten. Mittlerweile werden die meisten Lebensmittel mit dem Zeug versetzt, so daß jetzt auch die Kinder, Arbeitslosen und Rentner Sonics geworden sind. Aber ich bin kein Sonic, und daß heißt heutzutage, kein richtiger Mensch zu sein.

* * *

"Isdafrei?"
Ich schrecke hoch. Vor mir steht eine junge Frau.
"Natürlich, bitte!", stammele ich nervös.
Die Frau setzt sich, in dem sie sich kontrolliert neben mich fallen läßt. Ihre Finger wickeln präzise und mit unglaublicher Geschwindigkeit ein paar Brote aus. Bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen kann, hat sie schon das erste Brot geschluckt.
Verstohlen betrachte ich sie. Wie alle Sonics ist sie zu muskulös. Alles an ihr ist ständig in Bewegung, und ihr zuckendes Gesicht wirkt auf erschreckende Weise unmenschlich. Im Normalfall vermeide ich es deshalb, Sonics direkt anzuschauen. Trotzdem ist da etwas, das mich fasziniert.

Das zweite Brot verschwindet in ihrem Mund. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, daß sie einen schönen Mund hat. Das warme Rot ihrer Lippen bildet einen seltsamen Kontrast zu ihrem stoppeligen, blonden Haar.
Ich spüre, daß sie jetzt eigentlich gehen will, aber irgend etwas hält sie zurück. Ihr Kopf wirbelt herum und ihre graublauen Augen fixieren mich für den Bruchteil einer Sekunde.
"Sisinkeisonic?"
Sie rattert die Silben so schnell und gepreßt herunter, daß ich sie kaum verstehen kann. Der wahre Klang ihrer Stimme läßt sich nur erahnen.
"Nein, ich reagiere allergisch darauf."
Ihr Gesichtsausdruck läßt sich nicht deuten. Vielleicht ist es Mitleid, vielleicht auch nur Ungeduld über meine Langsamkeit - in dieser Zeitspanne können Sonics bequem einen Zeitungsartikel lesen.
"Als ich das erste Mal Sonic nahm, lag ich zwei Tage im Koma."
"Tutmileid."
Das klang ehrlich.
"Es gibt schlimmeres." Ich versuche ein gequältes Lächeln.
"Ikmuß."
Sie springt auf.
"Aufidessen!"

Verwundert schaue ich ihr hinterher. Erst jetzt sehe ich, daß ihre Igelfrisur hinten in einem neckischen dünnen Zopf endet.

Die ganze Begegnung hat vielleicht zwei Minuten gedauert. Jetzt kann ich mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Bestimmt habe ich mich furchtbar lächerlich gemacht.


Donnerstag

Ich stehe früher auf als gewöhnlich. Dusche und rasiere mich.
"Für sechsundzwanzig siehst du ganz passabel aus", erkläre ich meinem Spiegelbild.
Gut gelaunt schmeiße ich mich in Schale.

Der Blick in das Kühlfach ist ernüchternd. Mein Frühstück wird wieder einmal aus Brot mit Spiegelei bestehen. Ich muß heute einkaufen, um mich mit sonic-freien Lebensmitteln einzudecken - und das ist gar nicht so einfach. Milch, Eier und Mehl gibt es noch pur, und auch Obst und Gemüse, wenn man weiß wo. Fleisch ist allerdings ein Problem, dafür muß ich mit der Bahn zwei Stunden bis zur nächsten koscheren Metzgerei fahren. Zum Glück nehmen ein paar orthodoxe Juden ihre Speisevorschriften sehr genau. Seit man dem Vieh Sonic gibt, braucht man für die Mast nur noch die halb so lange - klar, daß es anderswo keine sonic-freien Schnitzel mehr gibt.

Ich beschließe, die Jagd auf den Nachmittag zu verschieben und den Morgen lieber im Park zu verbringen.

* * *

Als ich bei meiner Lektüre zum dritten Mal unten auf derselben Seite angekommen bin, ohne mich an das Gelesene erinnern zu können, lege ich das Buch beiseite.
Ich kann an nichts anderes denken als an sie.

Natürlich ist es verrückt. Nein, hoffnungslos trifft es besser. Sie und mich trennen Welten: Ich bin zu langsam, sie ist zu schnell. Aber trotzdem überläuft es mich heiß, wenn ich an sie denke. Ich muß sie wiedersehen.

Die Zeit fließt unendlich träge dahin. Ich renke mir fast den Hals aus, um sie irgendwo in der Ferne zu erspähen. Aber jedesmal, wenn etwas Weibliches in Sicht kommt, werden meine Erwartungen enttäuscht.

Schließlich, als ich gerade gehen will, trippelt sie an mir vorbei. Habe ich das kurze Aufblitzen des Erkennens in ihren Augen gesehen? Hat sie mich für einen Sekundenbruchteil angelächelt? Sprachlos starre ich ihrem wippenden Zopf hinterher. Nun ja, nicht nur dem Zopf: Sie hat eine schlanke Taille und ein entzückendes Hinterteil. An ihren endlosen Beinen fallen die athletischen Sonic-Muskeln nicht auf.

Aber wie wird sie mich wohl sehen? Als einen schlaksigen Hänfling mit wirrer Frisur. Als jemanden, der für drei Sätze länger braucht als der Fernsehsprecher für die Nachrichten. Als einen, der sich so langsam bewegt, daß ihm ein Sonic dabei die Schnürsenkel verknoten kann. Eine Witzfigur. Ein Behinderter. Jemand, dem man aus Mitleid zulächelt. Ich bin am Verzweifeln.

Müde, als ob ich eine Zentnerlast schultern würde, stehe ich auf. Die verständnislosen Blicke der vorbeieilenden Sonics sind mir egal. Mein Magen knurrt, ich muß einkaufen fahren.


Freitag

Ich kenne den Blumenladen, aber die Verkäuferin ist neu - ein Problem. Ich schlendere durch den Laden, aber die meisten Sträuße sehen so aus, als hätten auch die Blumen Sonic bekommen. Irgendwie muß das Zeug auch den Geschmack der Menschen geändert haben: Selbst Statisches wirkt so, als ob man ihm unbedingt Bewegung einhauchen müßte. Die Kunstwerke der Sonics haben immer etwas seltsam Schwebendes und gleichzeitig Unfertiges an sich - das kann ich selbst an den Blumensträußen um mich herum erkennen.

Als ich mit der Verkäuferin allein bin, verlange ich drei rote Rosen. Und spüre, wie ich selbst ein wenig rot werde.
Natürlich hat sie längst gemerkt, daß ich nicht normal bin, aber sie läßt sich nichts anmerken.
"Mitgrünoder?"
Ehe ich protestieren kann, entsteht vor meinen Augen eine komplizierte Explosion aus drei Rosen, einem großen grüngelben Blatt, Spargelkraut, buntgefärbten Gras und irgendeinem Doldengewächs mit winzigen weißen Blüten. Das Ganze wird mittels Spray in einen in allen Regenbogenfarben schillernden Kokon gehüllt.

Ich füge mich ins Unvermeidliche und bezahle das Gebilde. Gar nicht mal so teuer. Ich radle zum Park, den Strauß in der Hand.

* * *

Jetzt sitze ich schon anderthalb Stunden hier und werde jede Minute nervöser. Der Strauß ist wirklich schön, wenn das Sonnenlicht das feine Gespinst aufblitzen läßt. Trotzdem beschließe ich, die Rosen zu befreien. Ich will keinen Strauß verschenken, der nach einem erstarrten Feuerwerk aussieht: Das bin nicht ich, das ist Sonic-Zeugs.

Das Netzwerk ist trocken und flexibel, nicht zäh und klebrig, wie ich befürchtet hatte. Ich breche Stücken heraus. Ein Gedanke bringt mich zum Schwitzen: Was mache ich eigentlich, wenn sie ausgerechnet jetzt kommt? Soll ich ihr etwa den halbzerpflückten Strauß in die Hand drücken? Ich beeile mich.

Als nächstes entsorge ich das ganze Grünzeug. Streife die Blätter von den Rosen, denn das Sprayzeug geht nicht von ihnen ab. Wenigstens haben die Blüten davon nichts abbekommen.

Fertig. Jetzt sitze ich hier mit drei blattlosen Rosen mit viel zu kurzen Stielen in der Hand und Schweißperlen auf der Stirn. Und warte...

* * *

Es wird kühl. Sie ist nicht gekommen. Ich fahre nach hause, die Rosen in der Hand. Doch ich kann mich nicht entschließen, sie mit nach oben zu nehmen: Ich würde sie nur den ganzen Abend anstarren. Also werfe ich sie in die Tonne. Ist wirklich schade, aber was soll ich machen? Ich fühle mich miserabel.


Sonnabend

Heute habe ich mir ein paar Spiele mit in den Park genommen. Die Spielkonsole ist zwei Jahre älter als ich, und mit neuen Spielen ist auch nichts. Manchmal finde ich übers Internet ein neues altes Spiel für meine historische Hardware, dann feiere ich, bis der Arzt kommt. Aber in letzter Zeit war nichts mehr aufzutreiben.

Wahrscheinlich kenne ich die meisten meiner Spiele besser als ihre Programmierer, und so bin ich normalerweise schnell mit ihnen durch. Heute nicht, ich bin grottenschlecht.

Ist es nicht bescheuert, hier auf meine Sonic-Lady zu warten? Wozu soll es gut sein, von einer Romanze zu träumen, davon, daß aus jener flüchtigen Begegnung mehr werden könnte? Sollte ich nicht der Wahrheit ins Gesicht sehen, auch wenn meine Hormone gerade Pingpong spielen? Was will ich eigentlich sagen, wenn sie wieder vorbeiläuft? Soll ich mich tatsächlich zum Hanswurst machen und mir meinen Korb abholen? Was erwarte ich denn? Daß sie mir um den Hals fällt?

Verdammt! Schon wieder hat mich das Endmonster zu Hundefutter verarbeitet. Ich bin heute wirklich schlecht drauf. Vielleicht sollte ich es besser mit Mühle versuchen...

* * *

Sie ist wieder nicht gekommen. Na ja, vielleicht hat sie ja am Wochenende etwas vor, keine Ahnung...

Es fängt an zu regnen. Und die Sonics bringen es fertig, sich deshalb noch mehr zu beeilen - ein wirklich ulkiger Anblick. Ich dachte, daß ich mich doch irgendwann einmal an diese Bewegungen gewöhnen müßte. Sicher ist der Anblick für mich normal, aber immer noch wirken die Sonics seltsam künstlich auf mich. Es ist einfach falsch, sagt mir irgendwas in meinem Unterbewußtsein: So sollte sich einfach niemand bewegen müssen.

Der Regen wird stärker, ich muß los. Ich ziehe mir die dünne Jacke über den Kopf, obwohl das nicht viel hilft, und stakse nach hause. Am besten lasse ich mir gleich ein Vollbad ein, man gönnt sich ja sonst nichts. Und vergesse am besten diesen ganzen beschissenen Tag.


Sonntag

Die Mandeln in meinem Hals fühlen sich an wie zwei Kastanien in Chilisoße. Die Augen tränen und in meinem Kopf spielt eine Bigband gleichzeitig Schönberg und Sibelius. Ich schleppe mich ins Bad, trinke danach noch einen Schluck Milch (verflucht, ist die kalt!) und schlurfe zurück ins Bett.

Das Bad gestern hat nix geholfen - ich hätte mal auf den Wetterbericht hören sollen. Langsam drifte ich in einen Dämmerzustand ab. Habe ich Fieber?

* * *

Habe bis zum Nachmittag geschlafen, jetzt geht es mir wieder einigermaßen. Ich mache mir eine kleine Portion Spaghetti. Koche Wasser für den Tee, ganz altmodisch. Oben auf dem Schrank steht eine dieser Kaffe-Espresso-Oder-Tee-In-Zehn-Sekunden-Maschinen. Ein Geschenk meiner Eltern, noch originalverpackt. Kann mich nicht entschließen, das Ding zu verkaufen. Der Kessel pfeift, ich gieße ein, und schon verbreitet sich Kräuterduft im ganzen Zimmer.
Ich krächze "Mahlzeit!"
Die Mandeln bringen sich bei jedem Bissen in Erinnerung, und richtig Appetit habe ich auch nicht.

Zurück im Bett mache ich mir etwas Musik und versuche ein paar Seiten zu lesen. Kurz bevor ich wegdämmere, wippt vor meinem inneren Auge ein niedlicher blonder Zopf auf und ab.


Montag

"Siehabnindreißigminutneintermin...Siehabnindreißigminutneintermin...Siehabnindreißigminutneintermin..."

Verflucht, wo ist der blöde Organizer? Es dauert eine Weile, bis ich ihn lokalisiert habe. Wie kommt das verdammte Teil bloß zwischen meine dreckigen Sachen?

Ich schalte den nervigen Alarm aus. Da steht "10:45 Doc Wolther". Ach du Grüne Neune, die Untersuchung! Na ja, ich bin krank, da darf ich ruhig mal verpennen. Apropos, meine Mandeln spüre ich nur noch, wenn ich schlucke.

Ich mache mich notdürftig stadtfein, stecke mir einen Bio-Müsli-Riegel ins Gesicht und schwinge mich aufs Rad. Dann hole ich falsch Luft und ersticke fast an den Krümeln von dem Riegel. Das Zeug ist zwar sonic-frei, schmeckt aber wie Pappe.

10:52 Uhr stehe ich keuchend und verschwitzt in der Praxis von Doktor Wolther. Habe ich überhaupt die Versicherungs-Karte dabei? Gott sei dank, sie sie steckt in der Innentasche meiner Jacke. Die Schwester kennt mich, grinst nur breit und reißt mir die Karte aus der Hand. Sie weiß, daß sie mit mir keinen Smalltalk anzufangen braucht.

Im Wartezimmer sitzen nur zwei Leute. Es ist lustig, Sonics beim Warten zuzusehen: Wie sie im Zehn-Sekunden-Takt Zeitschriften durchblättern oder versuchen, stillzusitzen - was ungefähr wie eine Schüttellähmung aussieht.

Während ich warte, kommt noch eine Mutter mit Kind. Das Gör sprintet in die Spielecke. Die kleinen Ärmchen versuchen, einen Turm zu bauen. Erst beim sechsten Anlauf steht das Ding, aber ich wette, daß ich länger dazu gebraucht hätte. Jetzt rennt es zurück zu seiner Mutter, fragt sie etwas im Flüsterton. Ich kann die Wortfetzen nicht verstehen. Will es auch gar nicht: Es ist schlimm, mit anhören zu müssen, wenn Kinder dieses furchtbare Sonic-Staccato von sich geben.

Ich bin dran. Doc Wolther hat das Kunststück drauf, mit mir fast normal sprechen zu können.
"Wiegehtesihnenheute?"
Ich berichte von meiner Erkältung, er untersucht mich in etwa dreißig Sekunden und drückt mir eine Packung in die Hand.
"Waspflanzliches. Fürantibiotikabräuchteichsondergenehmigung."
Dann kommt der Bluttest.
Ich muß zweimal jährlich testen lassen, wie meine allergische Reaktion auf Sonic ausfällt. Das hat zwei Gründe: Einerseits muß mir der Doc ein neues Serum mixen für den Fall, daß ich versehentlich etwas Sonic-haltiges schlucke. Andererseits bekomme ich meine Rente von HyperPharm nur, solange ich nachweisen kann, daß die allergische Reaktion weiterhin besteht - so lautete damals das Urteil im Prozeß nach meinem Koma.
Der Doc mischt eine Flüssigkeit mit meinem Blutstropfen.
"Dasergebniskriegichmorgenrein. Abereinereaktionistschonerkennbar."
Er hält mir den Objektträger unter die Nase: Der Tropfen verfärbt sich dunkelbraun.
"Istnichtbessergeworden."

Ich will mich schon verabschieden, da deutet Doc Wolther auf den Stuhl - er hat noch etwas mit mir zu besprechen.
"Esgibteineexperimentelletherapieindenstaaten. Eineartdesensibilisierungfürsonic. Natürlichwürdehyperpharmdiekostenübernehmen." Er lächelt schief.
"Kann ich mir denken. Und die Risiken?"
"Dievorläufigenzahlensind: Beidreiunddreißigprozentkeinewirkung. Beivierprozentprobleme. Beisechspromilleersthaftekomplikationen. Siekönntenwiederimkomalanden."

So gut standen die Chancen noch nie. Bisher hatte ich von keiner Therapie mit mehr als 15% Erfolgsquote gehört. Einen Moment lang sehe ich die roten Lippen meiner Traumfrau vor mir. Ich könnte dazugehören, so sein wie alle anderen auch.

"Aberselbstwennesklappt, wirdeseinegewaltigeumstellung", merkte der Doc an.
"Ich weiß. Es wird nichts mehr sein, wie es jetzt ist."
"Esisteinestudie. Siemüsstensichschnellentscheiden, diemeistenplätzesindschonbelegt. Ambestengleich."

Na klasse. Ich soll mich jetzt entscheiden, bei einer so wichtigen Sache. Das Hagakure kommt mir in den Sinn, in dem der Ehrenkodex der Samurai beschrieben ist. Eine der Regeln lautet, daß man wichtige Dinge in nur sieben Atemzügen entscheiden können muß. Ich halte die Luft an, schließe die Augen, horche in mich hinein.

"Allesinordung?", fragt der Doc.
Ich atme aus, ganz langsam.
Meine Lippen formen die Worte ohne mein zutun. Ich höre mich sagen:
"Ich werde die Therapie nicht machen."
"Sindsiesicher?"
"Ja."
Der Doc schaut mich ernst an, dann nickt er:
"Ichdenkesiehabenrichtigentschieden."


Dienstag

Ich bin wieder einigermaßen fit, wobei ich bezweifle, daß das von Doc's Kräutern kommt.

Ein Spaziergang wird mir sicher gut tun. Ich ziehe mir eine ordentliche Jacke an, nur für den Fall, daß es wieder gießt. Stöpsele meinen Player ins Ohr, stopfe mir ein paar Music-Sticks in die Tasche und stiefele los.

Der Himmel ist wolkenlos. Es ist aber ziemlich windig, und ich bin froh, die Lederjacke angezogen zu haben. Wie von selbst finden meine Beine den Weg in den Park. Mir fällt auf, daß ich bis jetzt kein einziges Mal an sie gedacht habe. Habe ich etwa mein hormonelles Gleichgewicht wiedergefunden?

Mein Stick ist zu Ende. Ohne hinzuschauen, krame ich den nächsten aus meiner Tasche und stöpsele ihn ein.
Ach herrje! André Rieu spielt Wiener Walzer!
Mein erster Impuls ist, den Stick zu wechseln, aber dann fällt mir auf, wie gut die gestelzten Bewegungen der Sonics zum Dreivierteltakt harmonieren. Ich kann nur mit Mühe einen Lachkrampf unterdrücken.

Mir kommt eine verrückte Idee: Ich drehe die Musik lauter. Dann verbeuge ich mich artig, umfasse meine imaginäre Tanzpartnerin und drehe mich im Walzertakt auf dem Rasen. In den Gesichtern der Sonics spiegelt sich drollige Verständnislosigkeit. Wenn mein Blick den ihren trifft, wenden sie sich ab und trippeln weiter, als wäre nichts geschehen. Die Bewegung und die Musik geben mir das Gefühl zu schweben. Jetzt bin ich mir ganz sicher, daß meine gestrige Entscheidung richtig war. Das hier bin ich: Jemand, der sich lieber nach uralter Musik auf dem Rasen im Kreis dreht, anstatt hektisch zuckend von A nach B zu rennen, immer in Eile, immer unter Strom. Ich drehe mich weiter und weiter. Mir wird erst in diesem Augenblick klar, was die Sonics alles verloren haben, wie arm sie eigentlich sind...

Ich höre Applaus. Verwirrt bleibe ich stehen und taumele ein wenig, weil mir von dem ganzen Gedrehe schwindelig ist.

Auf der Parkbank sitzt meine Angebetete. Ich spüre, wie meine Ohren anfangen zu glühen. Aber irgend etwas ist anders als beim letzten Mal. Da steht ein Stock neben ihr. Aber das ist es nicht. Ich gehe auf sie zu.

Sie sitzt da und lächelt mich an, ruhig, nur manchmal erfaßt sie ein feines Zittern. Sie schluckt, konzentriert sich, bevor sie spricht.
"D-das war sch-schön."
"Danke", stammele ich.
"Ich neheme kein Sonic m-mehr", klärt sie mich auf.
Ich bin sprachlos: Sie hat das Zeug abgesetzt? Freiwillig?
"S-seit Freit-tag. Ich habe noch Sch-schwierigkeiten m-mit dem Sprechen und dem Gehen. Aber es wir bes-ser." Sie schaut mich erwartungsvoll an.
Was soll ich sagen? In meinem Hirn ist nichts als Leere.
"Das ist wirklich toll!", bringe ich heraus.
"Ich wollte da-das Sonic schon lange nicht mehr. Es hat m-mich kaputtgemacht, ausgelaugt. Aber ich habe mich bis jetzt nicht get-traut."
Sie lächelt schüchtern, und ich versinke in ihren Augen.
Ich nehme allen Mut zusammen, stehe auf und verbeuge mich.
"Darf ich um diesen Tanz bitten?"
Sie wird ein bißchen rot. Es steht ihr hinreißend gut.
"W-wir sollten erst einmal m-mit einem Kaffee beginnen.", schlägt sie vor. Ich Dussel: Sie ist noch auf Entzug, und ich will mit ihr tanzen. Dabei sehe ich doch, wie abgekämpft und müde sie ist. Alle ihre Bewegungen wirken vorsichtig und unsicher, fast tastend.

Ich reiche ihr meine Hand, sie zieht sich vorsichtig auf die Beine. Sie greift nach dem Stock, wir gehen zusammen ein paar zittrige Schritte. Ich lege ihre Hand um meinen Nacken, damit sie sich abstützen kann. So geht es viel besser.

Wir gehen zu meinem StammcafĂ©, wo der Wirt extra für mich sonic-freien Kaffee parat hat. Ganz langsam, Schritt für Schritt nähern wir uns unserem Ziel. Ich kann mein Glück immer noch nicht fassen. Aber sie ist an meiner Seite, wirklich und wahrhaftig.

"Hast du das für mich getan?", frage ich.
"Für den sch-schnuckeligsten Kerl im ganzen Park!", erklärt sie.
"Wer ist es? Ich bring ihn um!", entgegne ich mit todernster Miene.

Sie lacht, und ihr Zopf kitzelt dabei meinen Arm. Ich lache ebenfalls:
Weil ich verliebt bin, und weil ich alle Zeit der Welt habe.